Der Prediger

 

Alles hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreissen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit; weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit; Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit; herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit; suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit; zerreissen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit; schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit; lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit.

Das klingt wie ein Zitat aus einem Astrologiebuch, aber: Diese Sätze stammen aus dem Buch des 'Predigers' im Alten Testament. Dieses Buch ist eine Sammlung von ewig aktuellen Überlegungen zur (Alltags-)Welt der Menschen. Der 'Prediger' erkennt, alles ist vergänglich, alles, was Menschen tun, untersteht dem Zeiteinfluss. Ja, es scheint ihm hier darum zu gehen, darzustellen, dass alles Weltgeschehen in der Zeit geradezu 'eingefangen' ist. Es geschieht ein unendlicher Wechsel; Flucht daraus ist dem Menschen nicht möglich.



Als Mensch von heute finde ich diesen Gedanken eher angenehm.

Die Anspannung und die Eile und die Zeitknappheit, unter der wir uns manchmal zu befinden meinen, scheint mir eher wie der Ausdruck einer Sehnsucht ... In einer Zeit, die von verlängerten Ladenöffnungszeiten, überstunden, Langzeitarbeitslosigkeit, Existenzangst geprägt ist, werden Feierabend und Sonntagsruhe gekürzt, als wenn unsere Politiker und unsere Konzernchefs nie ein anspruchvolles Buch gelesen hätten.  Gleichzeitig werden wir durch Fernsehbilder (Formel Eins, Tennis, Fussball, BIG BROTHER etc. etc.) zugemüllt. Zu wissen, dass alles seine Zeit hat, kann selbst in diesen ?Globalisierungs-Zeiten? tröstlich deutlich machen, dass es auch wieder anders kommen kann. In fröhlichen Zeiten kann man die Fröhlichkeit eventuell intensiver geniessen, wenn man sich deutlich macht, dass es dafür auch eine eigene Zeit gibt.



Der Prediger schreibt an anderer Stelle:



Denk an deinen Schöpfer in deiner Jugend, ehe die bösen Tage kommen und die Jahre sich nahen, da du sagen wirst:

"Sie gefallen mir nicht"; ehe die Sonne und das Licht, Mond und Sterne finster werden und Wolken wiederkommen nach dem Regen. 

Zur Zeit, wenn die Hüter des Hauses zittern und die Starken sich krümmen und müßig stehen die Müllerinnen, weil es so wenige geworden sind, 

und wenn finster werden, die durch die Fenster sehen, und wenn die Türen an den Gassen sich schließen, dass die Stimme der Mühle leiser wird, 

und wenn sie sich hebt, wie wenn ein Vogel singe, und alle Töchter des Gesanges sich neigen; 

wenn man vor Höhen sich fürchtet und ängstigt auf dem Wege, wenn der Mandelbaum blüht und die Heuschrecke sich erhebt und die Kaper aufbricht;

denn der Mensch fährt dahin, wo er ewig bleibt, und die Klageleute gehen umher auf der Gasse; ehe der silberne Strick zerreißt und die goldene Schale zerbricht und der Eimer zerschellt an der Quelle und das Rad zerbrochen in den Brunnen fällt. 

Denn der Staub muss wieder zur Erde kommen, wie er gewesen ist, und der Geist wieder zu Gott, der ihn gegeben hat.

Es ist alles ganz eitel, spricht der Prediger, ganz eitel.


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